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Biologie IV: Verhalten

Erinnerungsvermögen:
Die Mär vom kurzen Gedächtnis

Es war die Art zu allen Zeiten, […]
Irrthum statt Wahrheit zu verbreiten.

(J. W. Goethe, 1808: „Faust — Der Tragödie erster Teil“)

Übersicht:



Die Nixmerker …

Cartoon: -- sauer1.jpg (41 kB)

Mit freundlicher Genehmigung von ->Joscha Sauer und ->Bulls Press

Eines Tages erhielt ich eine E-Mail von einer Jour­na­listin, die mich im Zuge ihrer Recherche für ein bekanntes Fernseh­format etwas fragen wollte: In mehreren Internet­quellen, so die Jour­na­listin, werde geschrieben, daß ein Goldfisch eine Gedächtnis­spanne von nur drei Sekunden habe. Es interessiere sie, ob diese Info stimme.

Ich könnte nun einer meiner Leidenschaften frönen und Journalisten­bashing betreiben; immerhin sollte man nicht jede Behauptung, zumal wenn sie absolut unbelegt ist, gleich als „Quelle“ betrachten. Das würde allerdings nicht den Kern der Sache treffen; immerhin re­cher­chierte die betreffende Journalistin ja und fragte bei jemandem nach, von dem sie sich eine kompetente Antwort erhoffte. Ich meinerseits wollte diese Er­war­tung nicht enttäuschen und eine fundierte Antwort liefern.
Zum einen gehörte dazu (wenn man nicht mit eigenen Er­kennt­nissen dienen kann) das Anführen wissen­schaftlicher Arbeiten zur Thematik. Eindeutige Studien dazu habe ich leider nicht gefunden, sondern nur indirekte Belege und die persönliche Ein­schätzung eines an diesem Thema arbeitenden Forschers. Dazu unten mehr.
Zum anderen gehörte dazu etwas, wonach mich die Jour­na­listin ebenfalls fragte:

Wie kann man das Gedächtnis eines Goldfisches testen, und wäre dies etwas, was jeder mit seinem eigenen Goldfisch auch machen könnte?

Genau dies halte ich für eine sehr gute Frage; und wenn man berücksichtigt, daß die Antwort auf diese Frage keiner komplizierten Experimente bedarf, sondern einfach nur Beobachtung der eigenen Fische und ein paar Gedanken und Schlußfolgerungen dazu, so ist mir absolut unverständlich, daß die Behauptung, das Gedächtnis der Goldfische dauere nur drei Sekunden (wahlweise zehn Sekunden, fünf Minuten oder zehn Minuten), von Goldfischhaltern überhaupt ernst genommen wird.
Gerade bei diesem Thema rätsel ich schon lange darüber, wie diese Aussage überhaupt entstanden sein mag, und wer diese falsche und dumme Behauptung in die Welt gesetzt hat. Über die Beweggründe derer, die sie weitergeben, kann ich nur spekulieren.

Um es hier klar und deutlich zu formulieren: Das kurze Gedächtnis der Goldfische ist nicht nur ein Gerücht sondern eine eindeutige Falschaussage.
Die Behauptung des kurzen Gedächtnisses dient hin und wieder dazu, die Unterbringung in nicht artgerechten Aquarien zu entschuldigen, weil selbst die armseligste und beengteste Ausstattung für die Fische ja immer wieder neu zu entdecken und somit aufregend wäre … Eine merkwürdige und dumme Ausrede.
Aber nun endlich zur Sache:

Beobachten Sie Ihre Goldfische!

Goldfischhalter können mit einem Minimum an Aufwand und Beobachtungsvermögen folgende Erfahrung an ihren Goldfischen machen:
Füttert man einige Wochen (mitunter genügen Tage) immer an derselben Stelle des Aquariums oder Teichs, erwarten die Fische an dieser Stelle das Futter. Die Tätigkeit des Fütterns (Schrank öffnen, Hantieren mit der Futterdose, …) und spätestens der Geruch des Futters veranlaßt die Fische, zur üblichen Futterstelle zu schwimmen. Füttert man unerwarteterweise an anderer Stelle (z. B. an der gegenüber­liegenden Ecke des Aquariums), so sorgt dies für einige Verwirrung bei den Fischen: Sie suchen an gewohnter Stelle nach dem Futter, und wenn das Futter sich dann tatsächlich an ganz anderer Stelle befindet, kann es einige Sekunden bis Minuten dauern, bis daß die Fische es dort aufsuchen.

Woher wissen die Fische, wo üblicherweise gefüttert wird, wenn ihre Erinnerung nur wenige Minuten zurückreicht? Ist diese Beobachtung nicht ein eindeutiger Beleg gegen die Annahme eines sehr kurzen Gedächtnisses? So etwas geht nur mit eindeutigem Erinnerungsvermögen! Und da man nicht alle fünf Minuten füttert, sondern bei Abwesen­heit des Halters auch 'mal einige Tage zwischen den Fütterungen vergehen können, und dann die Fische ganz besonders an der gewohnten Futterstelle warten, muß das Gedächtnis der Goldfische doch zumindest mehrere Tage dauern.

Die alten Chinesen riefen ihre (Teich-)Goldfische mit einem Glöckchen zur Fütterung. Die Goldfische ordneten das Glockenklingeln also der Fütterung zu und merkten sich dies. Berichte darüber wurden in Europa gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht ernst genommen und sogar als nicht zutreffend bezeichnet; der Grund dafür war, daß man Fischen kein Gehör zubilligte (Kreidl, 1895 u. a.). Obwohl schon Kraepelin (1921) sich in seinem Jugendbuch zutreffend über das Gehör der Fische äußerte, sah sich noch 1943 Boie veranlaßt, wissen­schaftlich nachzuweisen, daß Goldfische hören können. Er tat dies u. a. mittels Dressurversuchen; und damit sind wir wieder bei der Gedächtnisleistung, denn wie soll man Goldfische dressieren können, wenn sie sich das Gelernte nur wenige Minuten merken können?
Dies leitet über zu den wissenschaftlichen Arbeiten:

Was haben Wissenschaftler herausgefunden?

Erstaunlicherweise habe ich bisher noch keine Veröffent­lichungen gefunden, die sich speziell mit dem Erinnerungs­vermögen der Goldfische und dessen Dauer befassen. Auch wenn die Möglichkeit besteht, daß ich mangelhaft recherchiert habe (für Hinweise auf entsprechende Arbeiten bin ich dankbar), habe ich doch Grund zu der Annahme, daß diese Fragestellung bisher nicht gezielt untersucht wurde.

Trotzdem gibt es ausreichend ernstzunehmende wissenschaftliche Publikationen, aus denen ganz klar hervorgeht, daß das Gedächtnis der Goldfische nicht nur einige Minuten sondern mehrere Wochen, wenn nicht gar Monate anhält. Die u. a. auf Dressurversuchen beruhende Arbeit von Boie (1943) (s. o.) ist ein frühes Beispiel.
In der Forschung arbeitet man relativ häufig mit Goldfischen, um Kenntnisse über die Physiologie von Fischen zu er­langen. Dabei arbeitet man insbesondere bei der Erforschung des Hör- und Seh­vermögens mit Dressur­versuchen. Piechocki (1981) führt viele wissenschaftliche Fachaufsätze beispielhaft an; ein großer Teil dieser Arbeiten basiert auf Dressurversuchen.

Als neuere Werke möchte ich ebenfalls einige Beispiele anführen:
Neumeyer (1988) untersuchte in ihrer Habilitation das Farbensehen des Goldfisches, u. a. indem sie Goldfische darauf dressierte, Farbtafeln zu erkennen. Dörr & Neumeyer (2000) trainierten Goldfische darauf, farbiges Licht zu unter­scheiden. Chase (2001) dressierte die mit Goldfischen nah verwandten Karpfen darauf, verschiedene Musik­richtungen zu unter­scheiden! Mithilfe von Fütterungs­versuchen fanden Gee et al. (1994) heraus, daß Goldfische sogar Zeitabstände unterscheiden und sich merken können. Ebenfalls mit Hilfe von Dressur­versuchen erforschten Portavella et al. (2004) die neuro­physiolo­gischen Eigenschaften der emotio­nalen, räumlichen und zeitlichen Erinnerungen bei Goldfischen.
Bei all diesen Arbeiten wurden auch noch andere Methoden eingesetzt (z. B. histologische und neuro­logische Untersuchungen), aber bei allen Studien war die Dressur der Goldfische Voraussetzung dafür, daß überhaupt mit den Fischen gearbeitet werden konnte.

Wie nun schon erwähnt, sind Dressur und Training von Tieren unmöglich, wenn das betreffende Tier kein oder nur ein extrem kurzfristiges Gedächtnis hat. Die Vielzahl dieser Dressurversuche beweist also schon seit Jahrzehnten die Gedächtnisleistung von Goldfischen; sie wären nicht durchführbar gewesen, wenn ein Goldfisch nach zehn Minuten wieder alles vergessen hätte. Daß es (meines Wissens nach) noch keine Untersuchungen darüber gibt, wie lange genau nun ein Goldfisch sich etwas merken kann, ändert nichts daran, daß es sehr viele wissenschaftliche Studien gibt, die nur deswegen möglich waren, weil Goldfische über ein Gedächtnis verfügen, welches deutlich länger andauert als einige Wochen.
Wie oben bereits zitiert, trainierte Dr. Philip Gee von der University of Plymouth mit seiner Arbeitsgruppe Goldfische darauf, einen Hebel zu drücken, um Futter zu bekommen. Dabei ging es nicht nur darum, den Hebel zu drücken (solche Dressuren hat man schon vor Jahrzehnten vorgenommen), sondern auch darum, dies zu bestimmten Zeiten am Tag zu tun. Dr. Gee hat also einige Erfahrung mit Goldfischen und ihrer Gedächtnisleistung, und -> seiner Ansicht nach dauert das Erinnerungsvermögen von Goldfischen mindestens drei Monate.

Woher soll man das denn alles wissen?

Nun habe ich auf dieser Seite ausgeführt, daß die Gedächtnisleistung der Goldfische belegbar länger dauert als die oft behaupteten wenigen Sekunden oder Minuten. Mittels einfacher Beobachtungen kann dies jeder Goldfisch­besitzer selbst herausfinden; desweiteren habe ich wissenschaftliche Arbeiten angeführt, die dies indirekt beweisen.
Nun kann man aber weder erwarten, daß sich jeder selbst Goldfische anschafft und dies herauszufinden versucht, noch, daß jedermann anspruchsvolle und meist englischsprachige wissenschaftliche Literatur studiert. Woher soll man als „Normalbürger“ also wissen, daß Goldfische eine lange Gedächtnisspanne haben?

Nun — ich erwarte dies eigentlich von niemandem. Aber wird etwa umgekehrt erwartet, daß jedermann sich zum Erinnerungsvermögen von Goldfischen äußert? Genau dies tun eben nicht wenige Leute und verbreiten dann solche, mit Verlaub, schwachsinnigen Behauptungen. Nicht nur in Witzen und Cartoons, nein auch in der Werbung, in Filmen und Büchern und sogar bei Berichten über Themen, die eigentlich gar nichts mit Goldfischen zu tun haben, wird oft das angeblich kurze Gedächtnis der Goldfische erwähnt, sobald es in irgendeiner Weise um das kurze Gedächtnis von wem auch immer geht. Es muß ein journalistischer Reflex sein: kurzes Gedächtnis, schwupp, Goldfisch; schon hat der Artikel eine anschauliche Formulierung. Nur eben total falshc. Es ist wie mit dem Goldfischglas (vgl. Haltung II: Das Goldfischglas): obwohl viele Leute es seit Jahrzehnten besser wissen, werden alte und kritikwürdige Klischees bemüht. Immerhin weist bereits ein Kinderbuch aus den 1970er Jahren darauf hin, daß Goldfische ihre Pfleger erkennen können (Pajot, 1977), und hin und wieder gibt es auch Beiträge in den Medien, womit die verbreitete Fehlannahme korrigiert werden soll (z. B. Henderson, 2003, Drösser, 2007, Hein, 2009).

Ich erwarte allerdings von Goldfischhaltern, daß sie sich kundig machen und nicht mit der Schutzbehauptung der kurzen Erinnerung von Goldfischen eine nicht artgerechte Unterbringung zu rechtfertigen versuchen. Und ich erwarte von einem Berufsstand, der sich gerne als die „vierte Macht im Staat“ bezeichnet, daß er nicht ahnungs- und sorgfaltslos irgendwelche Klischees bemüht, um stilistische Unfähigkeit zu überspielen. Es geht nicht darum, daß hier eine Tierart, mit der ich mich gerne und intensiv beschäftige, in ein schlechtes Licht gerückt wird; sondern es geht darum, daß ich unsaubere Berichterstattung in jeder Form und die weit um sich greifende allgemeine Verdummung nicht mag. Die verfälschende Darstellung der Goldfische ist da nur ein harmloses Symptom einer gefährlichen Entwicklung. Die Journalistin, die mich anschrieb, hat es da mit ihrer Sorgfaltspflicht lobens­werterweise genauer genommen als viele ihrer Kollegen.
Es ist nicht so, daß Goldfische sich nichts merken können; nein, es sind Menschen, die nichts merken wollen.

Jetzt habe ich doch etwas Journalistenschelte betrieben. Und ich habe anläßlich eines biologischen Themas meine an dieser Stelle eigentlich unangebrachten allgemeinen und gesellschaftlichen Ansichten geäußert. Man möge es mir verzeihen. Ist ja auch die letzte Seite im Kapitel Biologie.   :-)


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http://goldfische.carassius-auratus.info/gedaechtnis.htm
http://goldfische.kaltwasseraquaristik.de/gedaechtnis.htm

Dokument vom 04. April 2009
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