Biologie I: Systematik und Ökologie
Fische (Pisces). Eine Gruppe von Wirbeltieren, die, als solche zusammengefaßt, nicht mehr in der zoologischen Systematik geführt wird.
Was ist eigentlich ein Fisch?
Kaum eine andere Tiergruppe ist so schwer zu definieren. Das hat historische Gründe: Das Wort „Fisch“ hat im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel erfahren.
Für die Menschen des Mittelalters war alles, was im Wasser lebte, ein Fisch — im Gegensatz zu den Tieren an Land und den Vögeln in der Luft. Demzufolge waren also auch Wale, Robben, Krebse, Quallen, Muscheln usw. folgerichtig alles „Fische“; nicht weil man es nicht besser wußte, sondern weil man es anders definierte. (In ernährungstechnischer Hinsicht war das eine elegante Lösung, gab es doch bei strenger Auslegung im Laufe des Kirchenjahres weit über 100 Fastentage, an denen Geschlechtsverkehr und „warme“ Speisen verboten waren.)
Man war auch der Überzeugung, daß alle Landlebewesen ein entsprechendes fischiges Pendant im Wasser hätten. So gab es also nicht nur Seebären, Seelöwen, Seehunde, Seepferde, Meerschweine, Seehasen, Wasserratten, Seeschlangen usw., sondern auch Seeungeheuer, Meereinhörner, Meermänner, Seejungfrauen u. ä. — alles Fische.
Oft wird das, was im Mittelalter als „Naturwissenschaft“ betrieben wurde (außer der alchemistischen Suche nach Gold interessierte man sich nur sehr wenig für derartiges) zusammengefaßt als das aristotelische Weltbild. Es ist richtig, daß man sich damals auf den großen griechischen Philosophen und Naturforscher Aristoteles (384—322 v. Chr.) bezog; aber man tut dessen Leistungen unrecht, wenn man die mittelalterlichen Gespinste (das geistige Interesse der damaligen Gelehrten galt ganz anderen Fragen) als Folge von Aristoteles' Wirken betrachtet.
Aristoteles versuchte nämlich bereits eine Methodik zu betreiben, die erst mit Beginn der Neuzeit wieder aufgegriffen wurde und zum Standard wissenschaftlichen Arbeitens wurde: die Beschreibung dessen, was ist, — nicht die Projektion eigener Vorstellungen (ein langwieriger Prozeß der noch heute andauert). Ähnlich wie später Linnaeus (1707—1778), beschrieb Aristoteles eine Vielzahl der damals bekannten Lebewesen, darunter auch viele Fische und ihre Lebensweise. Einige davon beschrieb er so exakt, daß man heute genau bestimmen kann, welche Art er vorliegen hatte.
Dem mittelalterlichen System nach Lebensräumen folgte während der Zeit der Aufklärung ein System nach anatomischen Kriterien. Mit diesem vergleichend-anatomischen System suchte man nach Homologien (Organe, die aus der selben Anlage hervorgehen) und rekonstruierte aufgrund anatomischer Ähnlichkeiten im Körperbau Verwandtschaftsbeziehungen, doch war man sich dessen in aller Konsequenz gar nicht so bewußt. Zu sehr galten noch Vorstellungen einer einmaligen, sich nicht wandelnden Schöpfung.
Spätestens in dieser Zeit begann man, den Begriff „Fisch“ anders zu definieren: Man bezog ihn nicht mehr auf die Lebensweise, sondern achtete sehr genau auf den Körperbau und die Organe. Wale mit ihren (sowohl in der Antike als auch im Mittelalter bereits bekannten) Lungen, Gebärmuttern und Milchdrüsen wurden nun entrüstet aus der Gruppe der Fische herausgenommen und zu den Säugetieren gestellt. Fische waren wasserlebende wechselwarme Wirbeltiere, die mit Kiemen atmen und sich mit Hilfe von Flossen fortbewegen. In diesem Sinne war die Gruppe der „Fische“ ebenfalls klar definiert, obwohl auch hier deutliche Unterschiede in der Anatomie zu erkennen waren.
Erst nach der Etablierung der Evolutionslehre (Lamarck 18xx, Saint-Hillaire 1830, Darwin 1859) konnte ein System erarbeitet werden, das auf der Stammesgeschichte (Phylogenie) der Organismen basiert. Diese phylogenetische Systematik (entwickelt von Henning in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts und ab 1950 publiziert) setzt sich nur langsam durch. Da sich die Phylogenie auch in der Anatomie ausdrückt, weist das phylogenetische System nicht nur große Übereinstimmungen mit dem anatomisch-vergleichenden System auf, sondern baut gewissermaßen darauf auf. In der Praxis ergibt sich augenblicklich eine Mischung aus beiden Systemen: dort, wo die Phylogenie noch nicht geklärt ist, verwendet man weiterhin das anatomische System. Dies hängt auch damit zusammen, daß die vergleichende Anatomie eine der Methoden ist, die Phylogenie zu klären; neben der Ontogenese (embryonale Entwicklung der Organismen) und molekularbiologisch-genetischen Methoden.
Diese Verquickung der Systematik des späten 18. und des 19. Jahrhunderts mit neuen phylogenetischen Erkenntnissen wird von vielen modernen Systematikern nicht gerne gesehen. In der konsequent phylogenetischen Systematik verzichtet man aus gutem Grund auf klassische Bezeichnungen wie „Ordnung“ oder „Klasse“ für übergreifende Taxa: eine „Ordnung“ innerhalb der Insekten läßt sich nicht mit einer „Ordnung“ innerhalb der Wirbeltiere vergleichen und auf eine selbe hierarchische Ebene stellen. Darüberhinaus gibt es viel Verwirrung und Streit, ob ein bestimmtes Taxon nun z. B. den „Rang“ einer Familie oder einer Überfamilie erhalten solle.
Im konsequent phylogenetischen System erfolgt die Einteilung der Organismen strikt nach Abstammung, die Gliederung orientiert sich anhand der von den jeweiligen Organismengruppen entwickelten Merkmale und Eigenschaften.
Im Laufe der Erarbeitung der Phylogenie der Wirbeltiere zeigte sich immer deutlicher, daß mit dem Begriff „Fisch“ Tiere bezeichnet wurden, die aufgrund ihrer Abstammungsgeschichte eigentlich nur schwer unter einem gemeinsamen Begriff zusammenzufassen sind. Dies erläutert man am besten anhand konkreter Beispiele:
Wie auf der Seite Goldfische in der Systematik gezeigt wird, läßt sich der Goldfisch mit anderen Fischarten zu der taxonomischen Übergruppe der Cyprininae zusammenfassen. Wenn nun Goldfische und Karpfen zusammen als Cyprininae geführt werden, so bedeutet dies, daß beide Arten einen (ausgestorbenen) gemeinsamen Vorfahren mit den Merkmalen der Cyprininae hatten (ob die Cyprininae jetzt als „Familie“ oder „Unterfamilie“ bezeichnet werden, ist absolut nebensächlich). Auch alle mehrzelligen Tiere hatten einen Organismus mit dem Merkmal der Vielzelligkeit als gemeinsamen Vorfahren und stellen das Taxon Metazoa dar. Solch eine Gruppe, die sich auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückführen läßt und zudem alle Abkömmlinge dieses Ursprungs beinhaltet, bezeichnet man als ein Monophylum oder — als Adjektiv — monophyletisch.
Nun wird die Sache bei den Wirbeltieren, deren einzelne Erscheinungsformen man traditionellerweise seit Jahrhunderten nebeneinander als verschiedene Gruppen führt, aufgrund der Erkenntnisse aus der Erforschung der Stammesgeschichte sehr kompliziert:
Alle Wirbeltiere (Vertebrata oder auch Craniota) lassen sich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen; weiterhin werden mit dem Taxon Vertebrata auch alle Abkömmlinge dieser Ursprungsgruppe erfaßt; es handelt sich bei den Wirbeltieren also um ein Monophylum. Doch sind die Einteilungen innerhalb der Wirbeltiere ebenfalls monophyletisch? Vor allem interessiert uns hier natürlich die Gruppe der „Fische“ („Pisces“). Goldfische und Menschen haben einen gemeinsamen Vorfahren, den Haie und Neunaugen nicht haben. Haie, Goldfische und Menschen hatten zwar einen gemeinsamen Vorfahren mit dem Merkmal der Kieferbildung aus den vorderen Kiemenbögen und werden daher gemeinsam im Taxon Gnathostomata (Kiefermünder) eingeordnet, doch dann gab es eine Entwicklung, an denen die Haie (und alle anderen Knorpelfische) nicht teilhatten: ein gemeinsamer Vorfahre der Knochenfische und der Landwirbeltiere entwickelte eine gut durchblutete Darmaussackung, die mit Luft gefüllt wurde. Daraus entwickelte sich bei den Knochenfischen die Schwimmblase und bei den Landwirbeltieren die Lunge.
Wir sehen also, daß bestimmte Wirbeltiergruppen (alle Landwirbeltiere: Vierfüßer = Tetrapoda) nicht zu den Fischen gerechnet werden, obwohl sie mit nur einigen (und eben nicht mit allen) derselben einen gemeinsamen Ursprung haben, und andererseits Tiergruppen, die eigentlich neben dieser Abstammungsgemeinschaft stehen (Knorpelfische = Chondrichthyes), zu den Fischen gezählt werden. Solch eine inkonsequente Gruppierung innerhalb eines phylogenetischen Systems nennt man ein Paraphylum oder paraphyletisch.
Eine ähnliche Konstellation gibt es auch innerhalb der Landwirbeltiere: Innerhalb der „Kriechtiere“ („Reptilien“ — zu denen man früher auch die Lurche zählte) gibt es sehr unterschiedliche Gruppen, z. B. Schlangen, Schildkröten, Echsen u. a. Nun haben die Krokodile und die Dinosaurier einen gemeinsamen Vorfahren. Und aus einigen Sauriern wiederum entwickelten sich die Vögel. Nun werden also die heute nächstverwandten Gruppen Vögel und Krokodile in zwei verschiedenen Gruppen geführt. In dieser traditionellen Einteilung sind die Vögel also eine eigene „Klasse“, die Krokodile jedoch eine „Ordnung“ innerhalb der „Klasse“ der Reptilien … Sie merken, warum in der konsequent phylogenetischen Systematik diese Begriffe unerwünscht sind?
Ein Hinweis für alle, die mitgedacht haben: die Vögel sind ein Monophylum, die Reptilien ein Paraphylum wie unsere Fische.
Solche paraphyletischen Gruppen gibt es im Tierreich öfter; man kennt sie, und man behält die Einteilungen bei, bis die Verhältnisse geklärt sind. Die Stellung der „Fische“ und Reptilien/Vögel als Gruppen innerhalb der Wirbeltiere sind längst geklärt. Daß sich hier immer noch Paraphyla in den Köpfen halten, ist eine bedauernswerte Folge geistiger Bequemlichkeit.
Der Begriff „Fisch“ kennzeichnet also keine systematische Einheit mehr. Er hat erneut einen Bedeutungswandel erfahren, der aber noch nicht abgeschlossen ist. Die Rundmäuler (Neunaugen, Inger) hat man schon herausgenommen, die Knorpelfische (Haie, Rochen) „duldet“ man noch, und einige Naturkundler möchten den Begriff nur noch auf Knochenfische angewendet wissen. Doch das ist m. E. Unsinn. Eigentlich entwickelt sich der Begriff „Fisch“ wieder zu dem, was er vor Jahrhunderten schon einmal war: keine systematisch-taxonomische Einheit, sondern lediglich eine Beschreibung für eine Gruppe von wasserlebenden Tieren. Und so wie das Seepferd kein Pferd, der Seehund kein Hund und der Bisam keine Ratte ist, habe ich auch keine Probleme damit, wenn man „Tintenschnecken“ (Schnecken sind es nämlich auch nicht!) weiterhin als Tintenfische und Wale auch 'mal als Walfische bezeichnet. Wer nicht weiß, um was für Tiere es sich handelt, der ist selbst schuld. Fische und Würmer gibt es eben nicht …
Zum besseren Überblick gibt es hier bald (Geduld …) einen Stammbaum der Wirbeltiere. Er hilft vielleicht auch beim Verständnis dieses nicht ganz einfachen Themas.
Letzte Überarbeitung dieses Dokuments: 01. Juli 2002
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