Zuchtformen I: Allgemeines
Über die genauen Rassezahlen gehen die Meinungen weit auseinander — was jedoch für die Pflegerinnen und Pfleger hierzulande kaum Bedeutung hat. Viele der weltweiten Züchtungen sind unbekannt, so daß es sich erübrigt, über genaue Zahlen zu spekulieren.
Seit Jahrhunderten werden Mutationen von Carassius auratus genutzt, um verschiedene Zuchtformen zu schaffen. Ausgangsform waren die rotgolden gefärbten Farbmangelmutanten der Silberkarausche. Aus diesem Fisch (heute noch als Normaler oder Gewöhnlicher Goldfisch bekannt und beliebt) entstanden zwei Variationen: Die lang- und einfachflossigen Schwalbenschwänze (Kometenschweife, Shubunkins usw.) und der sogenannte Grasgoldfisch (japanischer Name: Wakin) mit kurzer aber geteilter Schwanzflosse. Aus ihm entstanden drei Grundformen: die Teleskopfische/Drachenaugen (mit vergrößerten Augen), die Eierfische (ohne Rückenflosse) und die Goldfische in Form eines „Wen“ (Fransen- oder Schwalbenschwanz, japanisch Ryukin; in Deutschland allgemein zusammenfassend „Schleierschwanz“ genannt).
Abb. 1: Asiatischer Shubunkin. Aus der Stammform des Goldfisches entstanden langflossige Varianten; die bunte Kaliko-Färbung ist ein besonderes Merkmal der Shubunkin. Abb. v. J. Urata (Matsubara, 1908) | Abb. 2: Grasgoldfisch. Dieser auch unter dem japanischen Namen Wakin bekannte Fisch weist eines der ersten Domestikationsmerkmale auf: die geteilte Schwanzflosse. Abb. v. J. Urata (Matsubara, 1908) |
Aus diesen Formen ließen sich dann durch Kreuzungen die so zahlreichen heute bekannten Spielarten züchten.
Die Mehrzahl der heute existierenden Variationen entstand bereits vor mehreren hundert Jahren: bis zum 17. Jahrhundert entwickelten chinesische Züchter die meisten der üblichen Formen (vgl. Geschichte). Fast alle Formen mit ihren ausladenden Flossen, vergrößerten und hervorstehenden Augen und ihrem verdickten Körper zielten darauf, den Fisch bei der Betrachtung von oben (in flachen Teichen oder den in China üblichen undurchsichtigen Gefäßen) interessant aussehen zu lassen. Nur einige — meist ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene — Rassen sind für eine seitliche Betrachtungsweise in gläsernen Behältnissen konzipiert.
Abb. 3: Fransenschwanz (Ryukin). Die aus dem Grasgoldfisch gezüchteten Fische in Form eines Wen („Schleierschwänze“) gibt es in verschiedenen Variationen. Für die seitliche Betrachtung wurden die Ryukins standardisiert. Abb. v. J. Urata (Matsubara, 1908) | Abb. 4: Drachenauge (Demekin). Goldfische mit hervorstehenden Augen entstammen schlanken Formen. Durch Kreuzungen mit „Wen“-Fischen entstanden Teleskopschleierschwänze, auf japanisch Demekin genannt. Abb. v. J. Urata (Matsubara, 1908) |
In China gibt es über 300 zum Standard angemeldete verschiedene Goldfisch-Zuchtformen (Teichfischer, 1994); rechnet man die vielen Zwischenformen nicht mit, gibt es wohl immer noch an die 120 Zuchtformen. Wie im Kapitel Geschichte geschildert, ging es den alten Chinesen auch gar nicht darum, Fische zu züchten, die sich in ein System einordnen lassen. Man wollte einen einzigartigen Fisch, wie ihn kein anderer hatte. Es ist typisch europäisches Ordnungsdenken, einen einzelnen Fisch einordnen zu wollen. In den Goldfisch-Foren und per E-Mail gibt es immer wieder Anfragen, was für einen Goldfisch man denn nun genau habe, oder es werden detailverliebt die Varietäten getrennt, bis daß widersprüchliche Angaben der „Fachleute“ aus Literatur oder von anderen Websites den Eindruck erwecken, daß das ganze viel zu kompliziert und undurchschaubar sei. Ist es nicht bezeichnend, daß ausgerechnet in Deutschland zum ersten Mal ein System aufgestellt wurde, was für Formen es zu geben habe, wie sie auszusehen haben, und wie einzelne Fische innerhalb dieser vorgeschriebenen Formen zu bewerten seien? Dieser alte deutsche Standard wurde (nach mehrjähriger Vorarbeit von Ernst Bade, vgl. Geschichte: Europäische Goldfischkultur) im Jahre 1908 der Öffentlichkeit zur Diskussion vorgestellt (Herold, 1908a und b).
Dieser erste europäische Standard setzte den vielen (überwiegend in Europa wohl weitgehend unbekannten) asiatischen Spielarten vier Standards entgegen: den Schleierfisch, den Teleskopschleierfisch, das Himmelsauge und den Eierfisch. In einer Fußnote werden auch Kometfische genannt, die aber (wie auch der Normale Goldfisch) aufgrund der einfachen Schwanzflosse von Bewertungen ausgeschlossen werden.
Während in den folgenden Jahrzehnten der Goldfisch auf dem Kontinent unpopulär wurde, beschäftigten sich die Briten weiterhin mit Goldfischen und schufen ihren eigenen Standard, basierend auf den Ideen und Konzepten des alten deutschen Standards. Die derzeitigen Standards zur Vorgabe der Zuchtziele und zur Bewertung der Fische werden von der Federation of British Aquatic Societies (FBAS) herausgegeben. Nach der letzten Fassung von 1977 unterscheidet man siebzehn Formen.
In verschiedenen Büchern und Aufsätzen findet man verschiedene und oft ungenaue oder widersprüchliche Angaben zu den Zuchtformen. Dies beruht teilweise auf Unkenntnis der Autoren, teilweise aber auch darauf, daß in den unterschiedlichen Zuchtländern (China, Japan, England, USA) auch unterschiedliche Standards gelten. Darüberhinaus gibt es beinahe unbegrenzte Möglichkeiten der Merkmalskombination, wodurch die Vielzahl der Zwischenformen entsteht. Außerdem (auch diese Bemerkung ist an dieser Stelle geboten und sei gestattet) werden manchmal die seltsamsten und kleinsten Unterschiede aus Gründen des Regionalpatriotismus oder der eigenen Profilierung als eigenständige Zuchtformen propagiert. Ordnungsliebende Leute, die dann in das daraus resultierende Chaos ein System bringen wollen, stellen dann Varietäten auf und trennen manches, was eigentlich kaum trennbar ist, zumindest während langer Zeit gar nicht als getrennt empfunden wurde (vgl. z. B. Löwenköpfe und Büffelköpfe).
Die meisten der im „normalen“ Zoo- oder Aquaristikhandel erhältlichen Goldfische entsprechen nicht den strengen Vorgaben der Standards. So wichtig die Standards auch sind (vgl. die Seite Kritische Gedanken dieses Kapitels): man sollte sich damit abfinden, daß man als „normaler“, nicht züchtender Hobby-Goldfischfreund keine Tiere erhält, die hundertprozentig einem Standard entsprechen. Vielleicht sollte man es halten wie die alten Chinesen: sich daran freuen, einzigartige Fische zu besitzen.
Abb. 5: „Deme ranchu“: So wird diese Spielart bei Matsubara, 1908 bezeichnet. Sie soll Merkmale des Drachenauges (jap. Demekin) mit denen des Büffelkopfes (jap. Ranchu) vereinen. In Bernhardt (2001) wird diese Form nicht vorgestellt; dem dort angewandten Schema zufolge hieße der Fisch wohl „Eierfisch mit Drachenaugen und Fransenschwanz“. Teichfischers Codierungsvorschlag folgend lautet die Beschreibung „N–T–N, me–O–Fr, gold-schwarz“. Den typischen Ranchu-Rücken beschreibt keine dieser Benennungen.
Abb. v. J. Urata (Matsubara, 1908)
Benennen möchte man seine Fische dennoch. Und da gibt es dann ein kleines Problem: Viele in Europa und den USA verwendete Namen stammen aus der japanischen Sprache (bedingt durch die jahrzehntelange politische und kulturelle Abschottung Chinas gegenüber den westlichen Ländern). Mit diesen Namen ist aber oft der Fisch (aufgrund unterschiedlicher oder aber auch nicht vorhandener Standards) nicht eindeutig beschreibbar. In der chinesischen Sprache ergeben sich die Namen der Zuchtformen häufig aus der Aufzählung der verschiedenen Merkmale. Das ist ein gar nicht so verkehrter Ansatz, doch gibt es zahlreiche alte (und auch einige neue Spielarten), für die sich griffige und kurze, meist aber sehr phantasiereiche Namen eingebürgert haben.
Auf professionellen Zierfisch-Ausstellungen geht man dazu über, dem Muster der chinesischen Namensgebung zu folgen, also die Merkmale in ihrer Kombination aufzuführen. Anstatt einer Namensgebung hat Pederzani dafür vor Jahrzehnten einen Code für Schwertträger Xiphophorus helleri, Spiegelkärpflinge Xiphophorus maculatus und Papageienkärpflinge Xiphophorus variatus entwickelt. Teichfischer (1994) schlägt vor, solch einen Code auch auf Goldfische anzuwenden:
Für Goldfische sollte die Codierung durch Buchstaben erfolgen, die weitgehend den allgemein üblichen Bezeichnungen entsprechen und sich dadurch leicht merken lassen. Bei der Codierung beginnt man am Kopf, dann folgen die Augen, der Körper mit der Beschuppung, die Rückenflosse und die Schwanzflosse. Die Afterflossen können vernachlässigt werden […] Die Farbe der Fische wird an den Code nach Setzen eines Kommas angefügt.
Folgende Buchstaben empfiehlt er für die Codierung:
|
|
|
|
|
||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
|
|
|
|
|
Beispiele für die Codierung:
Normaler Goldfisch:
N–N–N, me–N–N, gold
Schwarz-weiß-gescheckter Teleskop-Schleierschwanz mit Löwenkopf und Pompon:
L/P–T–E, me–H–F, schwarz-weiß-gescheckt
Ähnliche Codierungsvorschläge, allerdings meist mit Ziffern und nicht nicht so gut ausgearbeitet, findet man auf einigen asiatischen Goldfisch-Websites. Auch Pederzani regte in einem Briefwechsel mit mir die Schaffung und Etablierung solch eines Codes für Goldfische an.
Ich denke, daß mit Teichfischers Vorschlag gute Vorarbeit geleistet wurde. Ausgereift ist er keineswegs. Aber man kann und sollte auf ihm aufbauen.
Letzte Überarbeitung dieses Dokuments: 26. Juni 2006
Alle Rechte vorbehalten. © N.M. 2001—2006